Mythos Bindungstheorie

Liebe Leser*innen, was sind wesentlichen Aspekten rundum die Beziehungsgestaltung auf allen Ebenen? Etwa: Wie wir Beziehungen aufbauen, welche Rolle Scham und Traumata dabei spielen, wie Bindung die Beziehungsgestaltung beeinflusst, was eine verbindende Autorität und die Ankerfunktion beitragen können usw. – der diesjährige Kongress von PINA (Praxis und Innovation – Neue Autorität) widmet sich genau diesem Thema und zur Einstimmung finden sich hier alle zwei Wochen, interessante Beiträge von Referent’innen des Congress.

In den letzten Jahrzehnten hat sich eine Sammlung von Geschichten, Tradiertem und Zusammengeklaubtem zu einer breit anerkannten Theorie entwickelt: Der Bindungstheorie. Daraus ist mittlerweile eine Überzeugung entstanden, die oft eine verheerende Kraft entwickelt in vielen Anwendungszusammenhängen. Ich habe mein Buch darüber „Mythos Bindungstheorie“ genannt, da diese nicht einmal den wissenschaftlichen Kriterien entspricht, die man an eine gute Theorie anstellen sollte. Wenn man die Bindungstheorie aber auseinandernimmt, bleibt nichts übrig: Weder theoretisch, noch praktisch. Im Wesentlichen hat sie sich aus etwas entwickelt, das wir in der Wissenschaft „konfirmatorisches Vorgehen“ nennen: Dem Suchen nach Bestätigungen der eigenen Überzeugung.

Was die Bindungstheorie dennoch so mächtig und überdauernd macht ist, dass sie einerseits so einfach ist, andererseits aber unseren Vorurteilen und Vorstellungen entspricht, wie Erziehung in Mittelschichtsfamilien zu funktionieren hat.

In letzter Zeit habe ich meinen Fokus vermehrt auf die Anwendung im Bereich von Sorgerechtsverfahren und Kindesentnahmen gelegt. In diesem Bereich wird die Bindungstheorie teils skandalös gegen die Interessen der Kinder eingesetzt. Ohne es wirklich zu untersuchen, wird Kindern scharenweise eine sog. „desorganisierte Bindung“ unterstellt. Die Beurteilung über die Bindung erfolgt darüber hinaus oft in künstlichen Situationen, in Büros oder Jugendheimen, in denen die Interaktion zwischen Mutter und Kind eine halbe Stunde beobachtet wird in Hinblick auf bestimmte Dimensionen, die in der Bindungstheorie als wichtig erachtet werden: Blickkontakt, Sprache, Responsivität usw. Was dabei aber keine Berücksichtigung findet, ist die Situation, in der sich wahrscheinlich jeder Mensch unwohl fühlen würde. Und daraus werden Schlüsse gezogen, die fatal für die Urteile und weiteren Vorgehensweisen sein können.

Erst letztes Jahr haben sich führende Bindungsforscher ausdrücklich von der Praxis distanziert, mit der „ihre“ Theorie in diesem Zusammenhang eingesetzt wird.

Was darüber hinaus an der Bindungstheorie zu kritisieren ist: Sie versteht sich normativ, als das beste Modell für alle Kinder dieser Welt. Das widerspricht allerdings sogar dem evolutionären Denken, auf das sie sich bezieht. Denn für unterschiedliche Lebenskontexte kann es nicht eine beste Lösung geben. Das zeigt, dass schon die von Bowlby verwendeten Grundlagen äußerst kritisch zu sehen sind. Und obwohl wir das heute besser wissen, wird die Theorie immer weiter tradiert.

Der normativen Betrachtung widerspricht auch der evidente Unterschied, dass in vielen Kulturen Netzwerke für die Kinderbetreuung zuständig sind, während in der Anwendung der Bindungstheorie bei uns in der Regel nur die Beziehung zur Mutter betrachtet wird. Auch wenn John Bowlby und Mary Ainsworth am Anfang viel von Familien gesprochen haben, fiel es am Ende meist wieder auf die Mütter zurück – vor allem unter der zeitweise vorherrschenden Annahme der Monotropie, d.h. der Überzeugung, dass Säuglinge nur mit einer primären Bindungsperson eine exklusive, einseitige Bindung eingehen können. In der Logik der Zeit, in der Bowlby und Ainsworth die Bindungstheorie entwickelten, war das dann selbstverständlich die Mutter.

Auch wenn der Monotropie-Gedanke mittlerweile wieder abgelehnt wird und sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass mehrere Bezugspersonen möglich sind, halten sich die alten Annahmen immer noch in der Praxis. Wir haben eine Untersuchung gemacht, in der festgestellt wurde, dass in psychologischen Untersuchungen zur kindlichen Entwicklung in 98% der Fälle die Mütter als Bindungspersonen im „Fremde-Situations-Test“ eingesetzt wurden – ohne dass das je hinterfragt wurde.

Letztlich geht es um Vertrauen. Kinder müssen Vertrauen in sich selbst und andere entwickeln: Das ist die Entwicklungsaufgabe.

Im Kontext einer Mittelschichtsfamilie, in der nicht viele Personen sind und noch dazu die Funktionen zwischen den Eltern aufgeteilt sind, kann man das sicherlich mit einer Haupt- und ein bis zwei nachgeordneten Bezugspersonen definieren. Das ist aber für die 95% der Weltbevölkerung nicht die Realität. Die meisten Kinder wachsen in sehr viel größeren Verbänden auf. Wir haben bspw. in Kamerun sehr viel mit dem Volk der Nso gearbeitet, die in ihrer Sprache nicht einmal ein Wort haben, das unserem Begriff für Familie entspricht. Die Bezugsgröße dort ist der Haushalt und die Menschen, die dort zusammen leben. Allerdings ist auch diese Bezugsgröße wenig mit unserem Verständnis von einer stabilen Gruppe, die in einem Haushalt zusammen lebt, zu erklären. Wir haben zum Beispiel lernen dürfen, dass dort zweijährige Kinder selbständig Entscheidungen über einen Wechsel des Haushalts, in dem sie leben, treffen. In den größten Teilen dieser Welt sind zudem Kinder die Hauptbezugspersonen von Kindern.

All diese Beispiele zeichnen ein wesentlich stabileres Umfeld für die Entwicklung von Kindern, als der Fokus auf die Bindung zu einer oder nur ganz wenigen Bezugspersonen, mit allen daraus resultierenden Vulnerabilitäten, aber auch elterlichen Überforderungen.

Aus diesem Grund ist es mir wichtig, mit meiner Arbeit – und auch meinem Vortrag beim PINA Kongress im September – festgefügte Ideen zu hinterfragen, andere Perspektiven aufzuzeigen und vielleicht an manchen Stellen sogar gängige Praxis ins Wanken zu bringen.

Heidi Keller wird im Rahmen vom „PINA Kongress #4“ (7.-9. September 2022 in Feldkirch, www.pina-kongress.at) einen Vortrag sowie Workshops zum „Mythos Bindungstheorie“ halten.

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