Beginnend in den 1990er-Jahren hat Prof. Haim Omer mit seinem Team in Tel Aviv begonnen, die „Neue Autorität“ zu entwickeln. Im Laufe der Jahre wird immer deutlicher, dass dieses Konzept in vielen Bereichen neue Zugänge ermöglicht.
Begonnen hat alles mit der Feststellung, dass die „Ohnmacht“ ein allzu bekanntes Gefühl ist, wenn man mit Eltern spricht, die mit ihren Kindern Schwierigkeiten haben. Das Empfinden von Ohnmacht taucht nämlich immer dann gerne auf, wenn das Kind was tun sollte, das es verweigert. Oder Dinge tut, die es nicht tun sollte und man dem vermeintlich hilflos ausgeliefert ist. Man möchte aber nicht mitansehen, wie sein Kind sich selbst oder andere gefährdet.
Die Vorgehensweisen aus der „herkömmlichen Autorität“ wurden in diesen Situationen immer weniger hilfreich. Gesellschaftliche Entwicklungen brachten Veränderungen in der Hierarchie – auch innerhalb von Familien. Und immer mehr setzte sich– in vielen Ländern sogar gesetzlich verankert – das Gewaltverbot in der Erziehung durch.
Gleichzeitig hatte sich auch das Konzept der „antiautoritären Erziehung“ nicht als der Weisheit letzter Schluss erwiesen. Einerseits bleiben die Eltern dadurch in ihrer Ohnmacht, andererseits stellte sich heraus, dass die dadurch erwarteten Entwicklungsziele – selbstbewusste Kinder zu erziehen, die gut für sich selber Entscheidungen treffen können – nicht erreicht wurden.
So startete das ambitionierte Team in Israel mit der Idee, den „Gewaltfreien Widerstand“, wie man ihn aus politischen Auseinandersetzungen vor allem von Mahatma Gandhi oder den Bürgerrechtsbewegungen in Amerika kannte.
Eltern sollten ihren Kindern klare Grenzen aufzeigen, aber von der Idee Abstand nehmen, dass sie ihre Kinder zu irgendetwas zwingen können, wenn diese es nicht wollen.
Der Begriff der „Neuen Autorität“ entwickelte sich erst gut zehn Jahre später, als das Konzept bereits in mehreren Ländern angewandt wurde und immer deutlicher wurde, dass es nicht nur um Widerstand geht. Der Fokus lag immer mehr auf der guten Beziehung zum Kind und auf der elterlichen Präsenz. Die Differenzierung zwischen der Person, zu der ich kontinuierlich eine gute Beziehung pflege, und seinem – manches Mal destruktiven – Verhalten ist dabei ein wesentlicher Punkt.
Doch nicht nur das Konzept an und für sich entwickelte sich weiter: Es wurde immer deutlicher, dass die damit verknüpfte Haltung auch in vielen anderen Bereichen hilfreich sein kann. So entwickelten sich zuerst Zugänge für die stationäre Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, dann für die Schulen und schließlich auch für die offene und die verbandliche Jugendarbeit.
In weiterer Folge starteten erste Projekte im Polizei- und Militärapparat in verschiedenen Ländern. In den letzten Jahren kamen dann Erfahrungen in der Personalführung ebenso dazu wie in Gemeinden. Mit dem Projekt „Couragierte Gemeinde“ entstand gerade in Österreich ein interessantes Konzept für die Förderung von Zivilcourage, das auf den Haltungen der Neuen Autorität basiert.
Hinter der Neuen Autorität steht der systemische Gedanke.
Verändert jemand in einem System (Familie, Schulklasse, Jugendgruppe, Betrieb, etc.) sein Verhalten bzw. seine Reaktion auf das Verhalten des Gegenübers, wirkt sich das bei allen im System aus. Diese Erkenntnis bietet im Grunde schon die Antwort aus der oben erwähnten Ohnmacht. Denn wenn ich mich aufgrund des Verhaltens meines Kindes ohnmächtig fühle, werde ich quasi zum Opfer seines Verhaltens. Überlege ich konsequent, welche andere Möglichkeiten mir als Reaktion zur Verfügung stehen als das, was ich schon ausprobiert habe, finde ich Wege.
Oft wird diese Erkenntnis auch mit einer „Schuldfrage“ gleichgesetzt. Vor allem Eltern tendieren in der Beratung immer wieder dazu, die Schuld für das Verhalten ihres Kindes bei sich zu suchen. Dabei wird übersehen, dass unsere Kinder – wie wir alle – einer Vielzahl von Einflüssen (neben der Familie bspw. Peergroup, Schule, Vereine, etc.) ausgesetzt sind, die zu ihrer Entwicklung beitragen. Die Frage, wo nun der Grund für dieses Verhalten liegt oder sogar, wer Schuld daran hat, ist in der Situation jedoch meist wenig hilfreich.
Eine weitere wichtige Erkenntnis liegt darin, dass Erziehung – wie generell die Überwindung von zwischenmenschlichen Problemen – nicht einem „Sprint“, sondern eher einem „Marathon“ gleicht. In einer Beratung hat mir kürzlich ein Vater sehr eindrücklich geschildert, wie er das Gefühl hatte für immer verloren zu haben, wenn er seine Forderung an seinen pubertierenden Sohn auf sein Zimmer zu gehen, nicht jetzt in dem Moment durchsetzen konnte. Der Druck, der dadurch beim Vater entstand, führte zu einem körperlichen Gerangel zwischen den beiden.
Wie weiter oben schon erwähnt, können wir unsere Kinder letztlich zu nichts zwingen. Wir sind auf die Beziehung zu ihnen und ihre Kooperation angewiesen.
Zum Glück wollen die Kinder immer auch die Kooperation mit uns, auch wenn diese innere, kooperative Stimme manches Mal sehr leise ist.
Wenn sie sich aber in einer Situation dagegen entscheiden, müssen wir das manches Mal akzeptieren. Das bedeutet aber nicht, dass sie deswegen „gewonnen“ haben – denn darum geht es gar nicht. Wir können aber mit aller uns zur Verfügung stehenden Beharrlichkeit die Grenzen verzögert aufzeigen. Wir bleiben dran, bis wir eine gute Lösung gefunden haben.
Dem oben erwähnten Vater, der in der Beratung selbst die Schilderung so eingeleitet hat, dass er einen Fehler gemacht habe, machte ich den Vorschlag, seinem Sohn gegenüber eine Wiedergutmachung zu leisten. Wiedergutmachungen sind ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil des Konzeptes, die wir anstelle von Strafen einsetzen. Am Ende sollen dadurch alle die Erfahrung machen, dass es möglich ist, die Verantwortung für Fehler zu übernehmen und wenn man diese wieder gut macht, die Beziehung gestärkt werden kann – im Gegensatz zur klassischen Strafe. „Opfer“ und „Täter“ können gemeinsam als Gewinner aus der Situation hervorgehen. Zu erwähnen bleibt natürlich, dass der Sohn dadurch nicht mit seinem Verhalten davonkam – auch mit ihm wird weitergearbeitet, und manches Mal gibt es in so einer Situation auch die Möglichkeit einer gegenseitigen Wiedergutmachung.
In besonderen Situationen braucht man aber auch Unterstützung als Eltern, Lehrperson, Jugendarbeiter_in, etc., wenn das Verhalten des Gegenübers kontinuierlich die „rote Linie“ überquert, und man dem alleine nicht genug entgegensetzen kann. Wir bilden dann Unterstützernetzwerke, die in einer wohlwollenden Haltung versuchen einen Beitrag zu leisten, dass gute Lösungen gefunden werden.
Eine Mutter, die zu uns in die Beratung kam und sich vor der Gewalt ihres pubertierenden Sohnes schützen musste, initiierte mit unserer Begleitung so ein Unterstützernetzwerk mit fünf Personen aus der Familie, dem Freundeskreis und der Nachbarschaft. Die Unterstützer_innen wurden gebeten, dem Jugendlichen Rückmeldung zu geben, wenn er wieder Gewalt ausübte. Gleichzeitig sollten sie ihm aber auch Anerkennung für positive Situationen geben und Beziehungsangebote machen, damit der Jugendliche sieht, dass die Unterstützer nicht nur auf sein Verhalten reagieren, sondern an seiner Person interessiert sind. Zu Beginn drohte der Sohn damit, es werde alles nur noch schlimmer, wenn seine Mutter nicht aufhören würde, die Unterstützer zu informieren. Schon nach kurzer Zeit tätigte er jedoch eine bemerkenswerte Aussage gegenüber seiner Mutter: „Ich als 14jähriger kann mich gegen 40 Erwachsene behaupten, aber eines schwächt mich: Dass du nicht auch Krieg führen willst, sondern in dieser Situation immer noch für mich sprichst!“ Die Situation hat sich innerhalb weniger Wochen sehr entspannt, Gewaltvorfälle kommen fast gar nicht mehr vor. Und wenn, dann weiß die Mutter, dass sie Unterstützung hat.
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