Liebe Leser*innen, was sind wesentlichen Aspekten rundum die Beziehungsgestaltung auf allen Ebenen? Etwa: Wie wir Beziehungen aufbauen, welche Rolle Scham und Traumata dabei spielen, wie Bindung die Beziehungsgestaltung beeinflusst, was eine verbindende Autorität und die Ankerfunktion beitragen können usw. – der diesjährige Kongress von PINA (Praxis und Innovation – Neue Autorität) widmet sich genau diesem Thema und zur Einstimmung finden sich hier alle zwei Wochen, interessante Beiträge von Referent’innen des Congress.
Es ist ein großer Schritt, wenn wir beginnen, nicht nur auf unsere Intuition zu vertrauen, sondern auch etwas darüber zu lernen, was hinter den Kulissen unserer Intuition passiert.
Das ist für mich eine essenzielle Art des Lernens. Ich beobachte die Dinge, die funktionieren, und schalte dann den Ingenieursblick ein. Ich bin kein Zauberer, auch wenn die Leute mich gerne so nennen. Ich möchte bekräftigen, dass es ein ganz klares System gibt, wie ich Kindern begegne und interpretiere, was in jedem einzelnen Moment geschieht.
Hier werde ich vier Schlüsselfaktoren meiner Arbeit mit euch teilen, die immer präsent sind, wenn ich mit Kindern zusammen bin:
- Offen sein für das, was jetzt geschieht – dem Kind mit unvoreingenommenem Blick begegnen
- Hohe und niedrige Level – das Energieniveau mitverfolgen
- Die ordnende Kraft von Kreisläufen – auf zyklische Abfolgen achten
- Sind Fische im Wasser? Sich von der Neugier leiten lassen
Wir begegnen so vielen Dingen in unserem Leben, dass ich wahrscheinlich Dinge erwähnen werde, bei denen ihr euch denkt: „Oh Mann, das mach ich eh schon.“ Ja, ich glaube, wir alle machen ähnliche Dinge. Aber denken wir einen Moment lang an eine Kochschule, in der jemand zu Ihnen sagt: „Okay, dann fangen wir mal an. Holen Sie das Mehl.“ Und ihr erwidert: „Ach was! Ich kenn Mehl schon. Das weiß ich schon.“ Ja, das tut ihr. Und wir werden es auf eine Weise mischen, die ein wenig anders sein kann. Jeder von uns wird es auf eigene Weise machen. Vielleicht bin ich nur hier, um dich zu ermutigen. Lass uns zusammen gehen und sehen, wie es läuft. Wollen wir?
Dem Kind mit unvoreingenommenem Blick begegnen
Wenn mich jemand anruft, schildert er mir oft einen Fall und sagt: „Schau Alé, dieses Kind hat dieses und jenes Problem.“. Und dann kommt eine Liste mit Symptomen und Diagnosen. Das kommt häufig vor. Ich nehme die Informationen freundlich entgegen und lege sie als Referenz neben mir ab. Ich werde kein Urteil fällen, bevor ich nicht mit dem Kind beisammen war. Selbst wenn man sich hundertprozentig sicher ist, dass man etwas bereits weiß und versteht, wartet man besser damit ab etwas über das Kind zu wissen, bis man mit dem Kind tatsächlich gemeinsame Zeit verbracht hat.
Wenn wir die Kinder dann nämlich tatsächlich treffen, können die Dinge ganz anders aussehen. Wahrscheinlich haben wir alle schon erlebt, dass jemand zu Ihnen gesagt hat: „Also, bei mir zu Hause ist sie nicht so, nicht so, wie sie hier bei Ihnen war.“ Und da passiert dann manchmal der magisch anmutende Moment, wenn wir sagen: „Ich halte mich nicht an das was da sein soll, was irgendjemand erwartet, sondern an das, was in diesem Moment tatsächlich passiert”. Das ist eine phänomenologische Arbeit.
Jetzt, im Moment der Interaktion mit dem Kind, entfalten sich viele Dinge, die ich aufmerksam wahrnehmen kann, um den Sinn dessen zu entschlüsseln, was geschieht. Die Brotkrümel, die mich zu dem führen, was wirklich wichtig ist. Es gibt hier drei Bereiche, die ich sehr hilfreich finde.
Das Energieniveau mitverfolgen
Bei Peter Levine habe ich ein grundlegendes Konzept gelernt, wie man verschiedene Erregungsniveaus im Körper beobachten und bewerten kann. Bei einer Bedrohung wird das Nervensystem aktiviert, und die Energie kann die Grenzen des Angenehmen überschreiten und in einen hohen oder niedrigen Energiezustand übergehen.
Lasst mich hier eine meiner prägendsten Einsichten mit euch teilen, die sich während meiner Arbeit bei einem Erdbeben in einer Schule, die zusammengebrochen war, einstellten. Wir arbeiteten mit den betroffenen Kindern zeitnah nach dem Ereignis und waren gemeinsam im Schulhof, wo etwa 60 Kinder spielten und herumliefen. Die Umgebung war komplett zerstört, und sie spielten immer noch. Plötzlich kam eine zweite Welle des Erdbebens. Wir hatten solche Angst. Sofort fingen all diese Kinder an, aus dem Schulhof auf die Straße zu rennen. Ich hatte auch ein bisschen Angst, aber ich blieb in der Mitte des Innenhofs stehen und beobachtete, was um mich herum geschah und wie ich helfen und trotzdem in Sicherheit bleiben konnte. Es dauerte ein paar Minuten mit einem starken Beben, aber zum Glück war es bald vorbei und alles war in Ordnung. Eine Minute später kamen die Kinder zurück und begannen mit denselben Spielen, die sie zuvor gespielt hatten. Die meisten von ihnen machten einfach da weiter, wo sie aufgehört hatten. Es schien fast so, als hätten sie nicht bemerkt, dass es vor ein paar Sekunden ein großes Erdbeben gegeben hatte.
Diese Situation hatte mir etwas zu sagen. Ich trat ein wenig zurück, mit den Augen des Beobachters, und bemerkte, dass vielleicht zehn der Kinder etwas hektisch waren und ein wenig desorientiert herumliefen. Weitere zehn Kinder weinten oder waren auffallend ruhig. Also ordnete ich meine Gedanken und verstand allmählich, wie man sich um diese 60 Menschen hier mit einem Team von drei Assistenten kümmern sollte. Ich sagte: Lasst uns direkt zu denjenigen gehen, die sehr viel oder sehr wenig Energie haben. Das sind diejenigen, die im Moment Unterstützung brauchen.
Lasst die 40 Kinder denen es gut geht in der Mitte dieses Innenhofs weiterspielen. Auch wenn sie Stress in ihrem Körper spüren, werden sie ihren eigenen Weg finden. Vertrauen wir auf ihre innere Weisheit.Wir haben uns also nur um die Kinder mit extrem hoher und extrem niedriger Energie gekümmert, denn indem wir ihnen halfen, konnten wir sie wieder in die Gruppe derjenigen integrieren, die bereits wieder im Fluss waren. Das ist eine Möglichkeit, Energie zu sparen.
Geschieht diese Dynamik auch in der Schule? Die ganze Zeit. Passiert sie auch in meiner Praxis, wenn ich mit mehreren Personen arbeite? Andauernd. Und bei einer Kinderparty, Alé? Ja. Die ganze Zeit über.
Achtet also im Alltag aufmerksam darauf und ihr werdet dieses Muster überall beobachten können.
Es gibt die Mitte, die ausgeglichener ist, und es gibt einige Verhaltensausreißer, die sich in einen hohen Energiezustand hineinsteigern, und andere, die sich eher im Kollaps befinden. Das sind die Kinder, die zu uns Professionisten kommen. Das sind diejenigen, die in der Schule mehr Probleme machen. Das sind diejenigen, um die sich die Gesellschaft Sorgen macht. Wir müssen ihnen einfach etwas zusätzliche Unterstützung geben.
Auf zyklische Abfolgen achten
Ihr werdet mich beim PINA Kongress oft über Zyklen sprechen hören. Sie sind der Kern meiner Arbeit. Als Prozessbegleiter unterstützen wir die Selbstregulation. Allgemeiner ausgedrückt: Wir erlauben dem System Mensch, mit Hilfe unserer Anleitung und Unterstützung eigene Antworten zu finden.
Ein Zyklus ist eine Abfolge von Ereignissen oder Mustern, die regelmäßig auftreten und normalerweise in irgendeiner Form zum Ausgangspunkt zurückführen. Vereinfacht ausgedrückt, achte ich darauf, wie sich eine Intention mit Anfang, Mitte und Ende entfaltet. Um Zyklen zu beobachten, muss man einen offenen Blick mitbringen und die natürliche Entfaltung von Verhaltensweisen oder Mustern zulassen, die sich von selbst zeigen. Wenn ich arbeite, versuche ich meine Klient:innen bei der Vervollständigung ihrer Zyklen zu unterstützen.
Wenn sie beginnen, sich mit mehr Leichtigkeit durch eine Abfolge von Zyklen zu bewegen, richten wir unseren Fokus darauf, den qualitativen Aspekt des einzelnen Zyklus zu verbessern. Es erfordert Geduld, dass wir uns nicht in der Analyse eines einzelnen Verhaltens verfangen. Sobald wir uns auf ein bestimmtes Verhalten versteifen, haben wir bereits die Gelegenheit verpasst zu sehen, wie sich dieses spezifische Verhalten in das größere Bild einfügt.
Sich von der Neugier der Kinder leiten lassen
Wir sprechen oft über Auslöser und Trigger, besonders in Berufen, die mit Traumata arbeiten. Aber wenn der Trigger etwas ist, was das Interesse des Kindes weckt, kann es etwas Positives sein, worüber wir sprechen müssen. Es ist die inhärente Kraft der Neugier, die ausgelöst wird. Das ist etwas ganz Wunderbares. Neugier. Es ist die Art von Wort, über die jeder spricht. Aber wie gesagt, das ist das Mehl für den, der bäckt. Man muss darüber sprechen. Wenn Neugierde im Raum ist, können wir sie wahrnehmen. Es ist wie: Hmm. Hier ist etwas Gutes im Gange.
Dies ist der Beginn eines konstruktiven Prozesses. Selbst wenn ein Kind aus einer ungünstigen und traumatischen Situation kommt, gilt das Gleiche. Wenn die Umgebung sicher ist und wir die Neugierde eines Kindes im Raum spüren, können wir einen Schritt zurücktreten und uns ein wenig entspannen. Denn das bedeutet, dass sie so sein können, wie sie wollen, dass sie genug Vertrauen haben, um mehr Neugier als Wachsamkeit zu zeigen.
Ich habe eine Geschichte über diesen Mann, Amyr Klink, der den Atlantik in einem Ruderboot überquert hat. Das war 1986, und ob Sie es glauben oder nicht, ich war dabei, nur als derjenige, der mitgeholfen hat das Boot ins Wasser zu schieben, nicht mehr als das. Manchmal ist das alles, was wir beitragen müssen, damit etwas Großes passiert.
Jedenfalls erzählte er, dass er allein mitten im Ozean war und dann ins Wasser sprang, um den Boden des Bootes abzukratzen, damit das Boot besser gleiten konnte. Als er anfing zu kratzen, spielten viele Fische um ihn herum im Wasser. Nachdem er eine Weile mit seiner Arbeit beschäftigt war, bemerkte er plötzlich, dass alle Fische verschwunden waren. Er dachte sich: „Oh, wenn keine Fische mehr da sind, gibt es ein Problem.“ Er sprang sofort zurück ins Boot, und als er ins Wasser schaute, sah er überall Haie herumschwimmen. Das war eine große Lektion für ihn. Er sagte, er habe gelernt, dass man sicher sein kann, dass Haie in der Nähe sind, wenn keine Fische da sind.
Wenn du also merkst, dass Kinder neugierig sind, dann entspann dich, du kannst in aller Ruhe am Boot rumkratzen. Gute Dinge können hier geschehen. Aber wenn die Neugier nicht mehr da ist, ist irgendetwas nicht in Ordnung und wir befinden uns wahrscheinlich auf einem Holzweg.
Bleibt der Neugier auf der Spur, folgt ihr, sie wird euch an wunderbare Orte führen.
Alé Duarte wird im Rahmen vom „PINA Kongress #4“ (7.-9. September 2022 in Feldkirch, www.pina-kongress.at) einen Vortrag sowie Workshops zu seiner Arbeit mit dem Titel „Wenn die Beziehung zur Welt verloren geht“ halten.